Standpunkt: Zur 29. Sitzung des Abgeordnetenhaus von Berlin
Standpunkt: Zur 29. Sitzung des Abgeordnetenhaus von Berlin

Standpunkt: Zur 29. Sitzung des Abgeordnetenhaus von Berlin

Der Artikel (Süddeutsche vom 28.4.2023) ist zwar lang, aber er versucht auch, die Stimmungen zu beschreiben von der langen Sitzung des Abgeordentenhauses am Donnerstag, den 27. April 2023 mit der Wahl des Regierenden Bürgermeisters von Berlin.

„Wäre es nach Plan gegangen, dann hätte Berlin um 16 Uhr einen neuen Senat gehabt. Kai Wegner wäre längst Regierender Bürgermeister, der erste Christdemokrat in diesem Amt seit 22 Jahren. Um 13.30 Uhr wäre erbeiseiner neuen Arbeitsstelle vorgefahren, er wäre die Haupttreppe im Roten Rathaus hinaufgestiegen und ein Spalier der Schornsteinfeger hätte ihm nach Berliner Tradition Glück gespendet. Er hätte seine Senatorinnen und Senatoren benannt und sie wären vereidigt worden. Aber weil es inzwischen auch Berliner Tradition ist, dass hier allerhand schiefgehen kann, sitzt Kai Wegner um 16.40 Uhr als einfacher Abgeordneter im Abgeordnetenhaus und wartet auf das Wahlergebnis. Schon zum dritten Mal an diesem Tag.

Drei Wahlgänge – es ist ein Eklat, der selbst die ausgebufftesten Politprofis zum Staunen bringt. 2006 musste der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit von der SPD für seine Wiederwahl in den zweiten Wahlgang, nach ihm kein Bürgermeisterkandidat mehr. Wowereit hatte damals eine Stimme gefehlt, er ist dann in die Sitzung der SPD-Fraktion geplatzt und hatte klargestellt, dass er noch ein zweites Mal antreten werde, dann aber nicht mehr. Es hat funktioniert.

Kai Wegner hat ein solches Ultimatum offenbar nicht gestellt, sonst würde er jetzt nicht auf „Wahlergebnis, die Dritte“ warten. Und selbst wenn er gedroht hätte, wer weiß, ob es etwas genützt hätte. „Falls Kai Wegner überrascht ist, er koaliert mit Sozialdemokraten“, twittert Monika Herrmann, die frühere grüne Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg etwas schadenfroh. Doch bei der Suche nach den Schuldigen sind sich Mitglieder unterschiedlichster Parteien einig, dass es nicht allein die Abgeordneten des Koalitionspartners von der SPD gewesen sein können, die gegen Wegner gestimmt haben.

71 Stimmen hat Wegner im ersten Wahlgang bekommen, 80 wären notwendig gewesen. Und da die geplante Regierungskoalition aus CDU und SPD zusammen auf 86 Stimmen kommt, hätten – kurz zusammengerechnet – 15 Sozialdemokraten dagegen votieren müssen. Daran glauben selbst die schärfsten Kritiker des Bündnisses innerhalb der SPD nicht. Abgesehen davon ist es auch nicht so, dass Wegner keine Gegner in der eigenen Partei hat. Ein besonders herzlich verbundener arbeitet derzeit als CDU-Generalsekretär und hat seinen Wahlkreis im Osten Berlins.

Im zweiten Wahlgang kommt es dann zum Patt. 79 zu 79 Stimmen, wieder war eine Stimme ungültig. Genau die hätte Wegner zur Wahl gebraucht. Die CDU -Fraktion beantragt eine Pause von anderthalb Stunden. Ein Fehler, meint einer, der in der Berliner CDU lange Regierungsverantwortung getragen hat. Man hätte das Momentum nutzen sollen, sagt er, einfach, um den Abweichlern die Dramatik klar zu machen. Auf den Gängen und in der Wandelhalle vor dem Abgeordnetensaal ist schon von Neuwahlen die Rede. Dazu die bange Frage, wie sich die AfD in einem dritten Wahlgang verhalten wird. Sollte sie Wegner mitwählen, würde der Eklat zum Skandal.

Dass Wegner in den dritten Wahlgang geht, ist unter diesen Voraussetzungen mindestens verwegen. Denn auch hier braucht er die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, minus Enthaltungen. Macht 80 Stimmen. „Das Berghain hat nicht mehr die härteste Tür“, twitterte das Footage-Magazin zu einem Bild des Roten Rathauses.

Jenseits des politischen Dramas, das in Berlin jetzt noch eine weitere krasse Umdrehung hinlegt, ist es auf eine traurige Art faszinierend, was so ein Ereignis mit dem Klima im hohen Haus macht. Am Vormittag noch war das sehr entspannt, geradezu feierlich, teils sicherlich in der Erwartung, dass nun ein doch sehr chaotisches Kapitel Berliner Politik halbwegs geregelt enden würde. Die gerade noch amtierende Sozialsenatorin Katja Kipping kommt gut gelaunt und mit einem prächtigen Blumenstrauß im Arm die Treppen von den Fraktionsräumen hinunter. Im Hof des Abgeordnetenhauses hinter der Kantine raucht die Justizsenatorin gemeinsam mit einem früheren Bausenator eine Zigarette und lacht.

Auch im Abgeordnetensaal herrscht unmittelbar vor dem ersten Wahlgang eine freudig-aufgeregte Stimmung. Abgesehen von den Angeordneten der AfD sprechen Parlamentarier aller Parteien freundlich miteinander; auf der Besuchertribüne sitzen die designierten Senatoren, die kein Abgeordnetenmandat haben, und unterhalten sich angeregt. Joe Chialo (CDU) mit Cansel Kiziltepe (SPD), Christian Gaebler (SPD) mit Manja Schreiner (CDU). Unten im Saal streift Kandidat Kai Wegner durch die Reihen der SPD-Abgeordneten, schüttelt Hände, klopft Schultern und scherzt.

Wegner wird da noch von einer selbstsicheren Leichtigkeit getragen, die sich vermutlich auch aus dem überragenden Wahlergebnis im Februar von über 28 Prozent der Stimmen speist. Daraus, dass es ihm gelungen ist, trotz des polarisierenden Wahlkampfs eine Koalition zu schmieden. Und daraus, dass die Delegierten seiner Partei noch am Montag einstimmig für den Koalitionsvertrag votiert haben. Doch das war keine geheime Abstimmung.

Diese ganze Zuversicht ist verloren, als ihm anderthalb Stunden nach Beginn der Sitzung um 13.28 Uhr ein Zettel aus dem Zählraum gereicht wird: durchgefallen. Es ist der Moment, in der der kurze Zauber, der über dem Haus lag, verfliegt. Das Plaudern verstummt und geschäftige Härte kehrt zurück in die Gesichter. Stimmung äs usual. Daran ändert sich auch nach dem nächsten Wahlgang nichts. Das Lachen ist jetzt sarkastisch. Vor dem letzten Wahlgang versuchen Grüne und Linke noch ein kleines Manöver. Sie wollen ihn mithilfe von Geschäftsordnungsfragen verhindern. Denn wenn die Koalition schon jetzt nicht steht, vielleicht geht da ja noch etwas. Zum Beispiel Gespräche mit der CDU für eine solidere Mehrheit.

Nach dem dritten Wahlgang ist die Farbe aus Wegners Gesicht gewichen, der Schwung vom Mittag ist komplett verpufft. Man möchte jetzt nicht gerne Kai Wegner sein. Um 16.42 Uhr wird das Ergeb nis des dritten Wahlganges verkündet: 86 zu 70 Stimmen. Die Mehrzahl der Abgeordneten steht auf und klatscht, Wegner bleibt sitzen, der Kopf ist gesenkt. Denn nicht nur CDU und SPD haben ihm applaudiert, sondern auch die AfD. „Die AfD-Fraktion hat vor dem dritten Wahlgang beschlossen, Kai Wegner zur erforderlichen Mehrheit zu verhelfen“, schreiben die Rechtsextremen in einer Presseerklärung.

Das kann auch ein Bluff sein, Wegner hat 86 Stimmen bekommen und die Koalition bringt es auf genau 86 Abgeordnete. „Wir gehen fest davon aus, dass die Fraktionen standen,“ sagt SPD-Fraktionschef Raed Saleh. „Die AfD lügt und trickst, das macht sie immer.“ Aber es ist eine hässliche Hypothek für Kai Wegner, der die Wahl mit den Worten annimmt: „So wahr mir Gott helfe. Beim Rausgehen mag der neue Regierende Bürgermeister keinerlei Fragen beantworten. Im Roten Rathaus warten die Schornsteinfeger, schon seit Stunden“

„So wahr mir Gott helfe“ (von Jan Heidtmann)