Dr. Matthias Kollatz

Was kostet eigentlich Corona?

Staatshaushalt und Volkswirtschaft

Die Frage ‚was kostet uns eigentlich Corona?’ hat viele vorläufige Antworten erhalten. Der seinerzeitige Kanzlerkandidat der SPD, Olaf Scholz, sagte dem ZDF im August 2021, Corona dürfte wohl den Staat Deutschland 500 Milliarden Euro kosten. Damit waren alle staatlichen Haushalte gemeint. Das Handelsblatt berichtete im März 2021, dass Deutschland 1320 Milliarden Euro an Verpflichtungen wegen Corona eingegangenen sei, darunter einen großen Anteil an Garantien, die aber nicht unbedingt fließen würden. Das ifo Institut legte im April 2020 verschiedene Szenarien vor, wonach jede Woche Lock-Down Einbußen am Bruttoinlandsprodukt BIP von 25 bis 57 Milliarden Euro auslösen werde, was einem Wachstumsverlust am BIP von 0,7 bis 1,6 Prozentpunkten entspreche.

 

Die Wirklichkeit sah etwas anders aus. Es überlagerten sich zwei Effekte, zum ersten dauerte die Corona Krise viel länger als anfangs gedacht (und sie hält bei der Abfassung des Artikels wenn auch abklingend an), zum anderen fielen aber die Wohlstandseinbußen geringer aus als ursprünglich befürchtet, d.h. den Wirtschaftssubjekten und den Verwaltungen gelang es vergleichsweise gut und im Zeitablauf zunehmend besser wirtschaftliche Aktivitäten zu sichern oder ggf. wieder zu starten bzw. in andere Sektoren zu verlagern. Antizyklisches Handeln über die staatlichen Ebenen hinweg leistete zudem erkennbar einen wichtigen Beitrag, Krisenfolgen zu begrenzen und Neustarts zu ermöglichen.

 

Die staatliche Neuverschuldung, die Steuerschätzung und damit zusammenhängend die staatlichen Einnahmen sowie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts geben einen guten Überblick darüber, wie sich der gesamtgesellschaftliche Wohlstand im Zeitablauf veränderte. Viele europäische Länder haben – wie die Bundesrepublik Deutschland auch – Anfang 2022 noch nicht wieder das BIP-Niveau von 2019 wieder erreicht, dem letzten Jahr vor der Corona-Krise. Deutschland liegt in der BIP Betrachtung zum Jahreswechsel 2021/2022 noch 1,1% unter dem Vorkrisenniveau, während z.B. Frankreich nach gut eineinhalb Jahren seinen Vorkrisenwert erreichen konnte. Insgesamt zeigt sich aber, dass durch Krisen Staaten ärmer werden.

 

Standen im ersten Halbjahr 2020 im wesentlichen lediglich Szenario-Rechnungen zur Verfügung, so liegt mittlerweile eine Reihe von Ist-Zahlen vor. In der jährlichen Pressekonferenz des Statistischen Bundesamts DEStatis im Januar 2022 bezifferte es die Neuverschuldung auf jeweils 4,3% des BIP in 2020 und 2021. Mittlerweile korrigierte DEStatis Ende Februar die Neuverschuldung des Jahres 2021 auf 3,7% des BIP. Diese deutliche Korrektur der sogenannten Schnellmeldung ist zumindest teilweise der starken Volatilität in Krisenzeiten geschuldet. Durch die stark in Anspruch genommenen Corona- Bundesprogramme wird die Neuverschuldung von 133 Milliarden Euro in 2021 saldiert ausschließlich vom Bund mit 143 Milliarden getragen, während die Länder insgesamt mit 5 Milliarden, die Gemeinden mit 1 Milliarde und die Sozialversicherungen mit 4 Milliarden Euro leichte Überschüsse ausweisen. Das Bundesland Berlin, der größte Empfänger im Länderfinanzausgleich, hatte einen Nachtragshaushalt für 2021 aufgestellt, der vorsichtig von 3,8 Milliarden Euro Defizit ausging; am Jahresende waren es lediglich 0,2 Milliarden. Das Bundesland Rheinland-Pfalz erzielte einen Jahressaldo von 2,3 Milliarden Überschuss (Länderzahlen BMF Monatsbericht Februar 2022) und stach vermutlich wegen eines besonders erfolgreichen Impf-Unternehmens hervor. Neben dem Engagement des Bundes mit Corona-Hilfsprogrammen und seiner Beteiligung an dem Aufbau der Impf- und Teststruktur spielte dabei das Anspringen der Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Neue Arbeitsplätze wurden geschaffen, viele Betriebe und Selbstständige beendeten die von ihnen beantragte Phase der Steuerstundungen und nahm gleichzeitig die Steuerzahlungen wieder auf, was bei Länder und Kommunen die Einnahmen größer ausfallen ließ als die Ausgaben.

 

Diese Ist-Zahlen sprechen dafür, dass in 2022 allenfalls noch in geringen Größen Neuverschuldung wegen Corona erforderlich ist und in 2023 nach heutigem Erkenntnisstand sicher nicht mehr. Die für 2022 vorhergesagte weitere wirtschaftliche Erholung erzwingt die entsprechenden Veränderungen der Zahlen. Schaut man also auf die Neuverschuldung und die Zahlen von DEStatis, so gilt es die Neuverschuldung von 145 Milliarden Euro (4,3% des BIP) in 2020, von 133 Milliarden Euro (3,7% des BIP) in 2021 und mit 2022 liegt die Corona-Neuverschuldung voraussichtlich nicht über 290 Milliarden Euro für drei Jahre und alle staatlichen Ebenen.

 

Schaut man aber in die Haushalte von Bund und Ländern, ergibt sich ein anderes Bild. Für 2021 werden einschließlich des im Januar 2022 für 2021 beschlossenen Nachtragshaushalts des Bundes für 2021 eine Neuverschuldung von bis zu 215 Milliarden Euro allein für den Bund angegeben; viele Bundesländer sind ähnlich entweder bereits in die Notfallkreditaufnahme oberhalb ihres Corona-Bedarfs gegangen (z.B. das Bundesland Berlin, das deshalb über eine Rücklage von über 5 Milliarden Euro verfügt) oder verfügen über entsprechende haushälterische Genehmigungen (z.B. das Bundesland NRW mit einer Genehmigung für eine Neuverschuldung von bis zu 50 Milliarden Euro). In Hessen war die Konstruktion eines Sondervermögens gewählt worden. Dessen Ausgestaltung über Corona- Maßnahmen hinaus hat der Staatsgerichtshof auf Klage der SPD und anderer Oppositionsparteien verworfen und entschieden, dass die Schuldenbremsenregelung in der Hessischen Verfassung ‚Kreditaufnahme in außergewöhnlichen Notsituationen (nur) insoweit {gestatte, MK}, als dies zur unmittelbaren Bekämpfung dieser Notsituation erforderlich ist. Zwischen dem auslösenden Ereignis und der erhöhten Kreditaufnahme muss folglich ein Veranlassungszusammenhang bestehen‘ (Urteil vom 27.10.2021, Tz 268). Auch Gutachter anderer Bundesländer – wie z.B. Korioth im September 2020 für den Stadtstaat Bremen – verfolgen eine ähnliche Linie. Gerade bei mehrjährigen Krisen gelte es, reguläre Haushaltsmittel einzusetzen und neben Einsparmaßnahmen auch vorrangig vor Neuverschuldung Rücklagen aufzulösen. Es sei unzulässig, auf bewusst zu hoch angesetzte Notfall-Kreditaufnahme zur Gewinnung von Spielräumen für die Folgejahre zu verzichten. Es ist davon auszugehen, dass sich diejenige Interpretation der Schuldenbremse durchsetzt, die bei in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren beschlossenen Notfallkrediten zumindest ab dem zweiten Jahr einen direkten Zusammenhang zum auslösenden Ereignis des Notfalls erfordert. Für die Fragestellung dieses Artikels – was Corona kostet – bedeutet das, dass nicht für Corona-Ausgaben ausgeschöpfte Kreditrahmen auch nicht als Corona-Kosten betrachtet werden. Soweit also zB die nicht ausgeschöpften Kreditrahmen auf Bundesebene für zukünftige Klimainvestitionen eingesetzt werden, sind das keine Corona-Kosten.

 

Bei knapp vier Monaten Lock-Down oder Soft-Lock-Down in 2020 und nur geringfügig weniger in 2021fiel die Entwicklung des BIP deutlich besser aus als in den Szenarien- Rechnungen ursprünglich befürchtet. Das Wachstum betrug im letzten Vorkrisenjahr 2019 1,1% real nach Abzug der Inflation, in 2020 kam es zu einem Einbruch von -4,6%, in 2021 zu einer Erholung um 2,9% (DEStatis, 25. Februar), wobei die Erholung im vierten Quartal durch die vierte Corona-Welle gebremst wurde – und vermutlich min ersten Quartal 2022 durch die fünfte Welle weiter gebremst wird. Selbst im günstigsten Szenario entspricht der massive Einbruch von 2020 eher zwei Monaten Lock-Down als dem in Realität in etwa doppelt so langen Zeitraum. Diese Entwicklung ist keinem Betrachtungsfehler geschuldet, sondern einem Erfolg der staatlichen Stützungsprogramme, von denen insbesondere die Kurzarbeit auf Bundesebene und die kleinteiligen Programme auf Länderebene für Kleinunternehmen und Selbstständige rasch wirkten, bevor es zu einem Strukturbruch mit einer massiven Insolvenz- und Entlassungswelle kam. Daneben unterschätzten die Szenarien den Veränderungs- und Anpassungswillen der Wirtschaftssubjekte; es wurden überfällige neue Konzepte umgesetzt mit flexibleren Arbeitsformen (z.B. Homeoffice) und der Digitalisierungsschub schuf neue qualifizierte Arbeitsplätze. Das Institut der Deutschen Wirtschaft IW schätzt im Januar 2022 den in den Krisenjahren 2020 und 2021 eingetretenen Wertschöpfungsverlust insgesamt auf 350 Milliarden Euro, davon 60 Milliarden an unterlassenen Investitionen. Das bedeutet in jedem der Krisenjahre in etwa einen Wertschöpfungsverlust von fünf Prozent des BIP.

 

Es hat sich in Deutschland und den meisten anderen Ländern rasch ein breiter Konsens gebildet, dass es sinnvoll ist, in der Krise antizyklisch zu steuern und Corona-Hilfen sowie Unterstützung für Zukunftsinvestitionen staatlicherseits anzubieten. Dieser Konsens war nicht selbstverständlich in einem Land, in dem die wirtschaftswissenschaftliche Zunft mehrheitlich neoliberalem Gedankengut anhängt. Umgekehrt war er aber naheliegend, weil es eine Krise war, die durch die staatliche gleichzeitige Unterdrückung von Angebot und Nachfrage zustandekam und nicht durch Fehlallokation von Wirtschaftsakteuren. Dass über antizyklische Maßnahmen nicht nur geredet wurde, sondern dass sie auch tatsächlich stattfanden, zeigt sich z.B. an der Staatsquote. Genauer als Staatsausgabenquote beschrieben zeigt sie das Verhältnis der gesamten Staatsausgaben als Anteil des BIP. Antizyklisches Verhalten sollte sich als kräftiger Anstieg der Staatsquote zeigen, die nach einer gewissen Zeit wieder absinkt. Es sei darauf hingewiesen, dass die Staatsquote insoweit eine unechte Quote darstellt, als sie auch staatliche Transfers enthält, die wiederum ihrerseits von den Transferempfängern in Konsum umgesetzt werden. Die Staatsquote und die private Ausgabenquote können sich also zu über 100 Prozent addieren. Die vorläufigen Angaben zeigen für 2019 eine Staatsquote von 45%, die sich seit 2011 im Rahmen zwischen 44 und 45% bewegt, sowie für 2020 den Wert von 50,8% sowie für 2021 von 51,6%. Es ist zu erwarten, dass die Staatsquote bis 2023, spätestens 2024 entsprechend absinkt. Unterstützt wird das Absinken durch die Mechanismen der Schuldenbremse, die für 2023 in den mehrheitlich angewendeten Konjuntkurverfahren Tilgungen der Staatsschuld statt weitre konjunkturbedingte Kreditaufnahmemöglichkeiten vorsehen.

 

Abschließend soll noch aus dem Vergleich der jeweils für fünf Jahre in die Zukunft reichenden amtlichen Steuerschätzungen ermittelt werden, welches Ausgabenpotential durch die Corona-Krise nicht zur Verfügung stand. Im letzten Vorkrisenjahr wuchs das BIP in Deutschland nominal um 2,8%, die Steuereinnahmen stiegen um 2,6%. Neue Schulden wurden nicht aufgenommen. Gegenüber der Steuerschätzung von November 2019 wurden in 2020 etwa 78 Milliarden Steuern weniger eingenommen als ursprünglich geschätzt, in 2021 waren es nach der Schätzung von November 2021 etwa 33 Milliarden, für 2022 werden 26 Milliarden geschätzt, für 2023 sind es 23 Milliarden und für 2024 noch 16 Milliarden. Ab 2025 kann dieser Vergleich nicht mehr durchgeführt werden, weil dazu in 2019 noch keine Schätzung vorlag. Wichtig ist, dass die Optimisten Recht zu bekommen scheinen, die von keiner dauerhaften Wachstumseinbuße und dem Einschwenken auf einen niedrigeren Wachstumspfad ausgehen. Auch wenn bei Abfassung des Artikels noch keine endgültigen Zahlen vorliegen, scheint sich die Rückkehr auf den Wachstumspfad vor der Krise eher früher als später zu ergeben: die Ist-Steuereinnahmen für Bund und Länder lagen nach den BMF-Monatsberichten Ende 2021 so hoch, dass die verbleibende Lücke bereits zur Hälfte geschlossen war. Nimmt man die Differenz der Zeitreihe der beiden Steuerschätzungen von 2019 und 2021, ergibt sich ein ‚Steuereinnahmeloch‘ von 176 Milliarden Euro. Diese Einnahmen hätten ohne Krise zur Verfügung gestanden und hätten – soweit auf Tilgungen der Staatsschuld verzichtet worden wäre – im günstigsten Fall für öffentliche Klimaschutzinvestitionen zur Verfügung gestanden.